"Wir hörten die Kaninchen jammern"

Als Mädchen erlebte die heute 79-jährige Annelies Oelkers den 13. Februar 1945 in Dresden. Die Freibergerin schrieb ihre Erinnerungen auf.

Von Annelies Oelkers
erschienen am 13.02.2017

Eine Frau geht in einer Straße in Dresden an Häusern vorbei, von denen nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch Ruinen geblieben sind. Knapp drei Monate vor Ende des Zweiten Weltkriegs legten britische und amerikanische Bomber am 13. und 14. Februar 1945 Dresden in Schutt und Asche.
Foto: dpa/Archiv

Freiberg/Dresden. Annelies Oelkers war sieben Jahre alt, als alliierte Bomber 1945 Dresden heimsuchten. 72 Jahre später und längst in Freiberg heimisch, hat sie ihre Erlebnisse aufgeschrieben. Ihre Erinnerung daran ist noch frisch. "So ein Ereignis ist so einschneidend, als recht als Kind", sagt sie. Ihr Bericht beschönigt nichts, lässt aber anhand des Schicksals des Flickschusters anklingen, wer für den Krieg verantwortlich war.

Der 13. Februar 1945 war ein nasskalter, trüber Tag. Es war zwar Faschingsdienstag, aber man sah kaum kostümierte Kinder auf der Straße.

Ich ging seit 1. September in die "Haydnschule". Wir hatten aber seit Anfang Dezember keinen Unterricht mehr. Die Schule war zum Lazarett umfunktioniert worden. Die größeren Klassen hatte man mit den Lehrern auf die Dörfer verlegt und uns Erstklässler nach Hause zur Mutti geschickt. Die Väter waren sowieso meistens im Krieg, der nun schon fünf Jahre andauerte.

Dresden war die einzige Großstadt in Deutschland, die noch nicht bombardiert worden war, bis auf einen kleinen Angriff im Oktober 1944 auf Dresden-Plauen. Mein Vater war damals gerade zum letzten Mal auf Urlaub zuhause und da wir in der 3. Etage wohnten, konnten wir vom Küchenfenster aus die Rauchschwaden sehen. Trotzdem hatten wir fast täglich Alarm, auch wenn die Bombengeschwader nur über uns hinwegflogen. Wir wohnten in einem großen Haus mit zwei Geschäften rechts und links der Haustür. Ein Bäcker, dessen Backstube im Keller war, und ein kleiner Flickschuster. Wie mir meine Mutter später sagte, war der Jude und wurde eines Nachts von der Gestapo abgeholt, seitdem war das Geschäft geschlossen. In jeder Etage gab es vier Wohnungen und in der 3. Etage sechs mit 13 Kindern, darunter zwei Babys. Hinter unserem Haus, war ein großer freier Platz mit einer Kohlenhandlung und anschließend hatten ein paar Leute einen kleinen Garten. Wir hatten also genügend Platz zum Spielen. Es wurde uns Kindern von klein auf beigebracht, dass wir unsere Sachen abends beim Zubettgehen ordentlich auf den Stuhl abzulegen hatten, damit wir diese bei Alarm schnell anziehen konnten. Obenauf lag ein DIN-A5-großes Schild an einer Schnur mit meinem Namen und der Dresdner Anschrift und auf der Rückseite die Adresse meiner Freiberger Verwandten, damit man wusste, wo ich eventuell abzuliefern war.

Meine Eltern hatten ein modernes Radio und meine Mutter ging abends nicht eher zu Bett, bis sie den Londoner Sender abgehört hatte, der sich mit "bum - bum" meldete und ansagte, ob über "Martha-Heinrich" (das war der Deckname für Dresden) mit Fliegern zu rechnen war. Nur an diesem Faschingsdienstag war sie bei einer Nachbarin eingeladen, deren Mann auch im Krieg war und die Pfannkuchen backen wollte. Darum stand sie bei Voralarm plötzlich vor meinem Bett und mahnte mich, dass ich mich schnell anziehe. Aufs Hemd kam das genannte Schild mit den Adressen. Ich hatte zwei Kleider an und zwei Mützen auf. Im Vorsaal stand immer ein kleiner Handkoffer bereit, gepackt mit dem Wechsel an Unterwäsche und dem Sparbuch, auf das meine Mutter dann schnell noch die Lebensmittelkarten und mit einem Griff in den Besteckkasten die täglichen Bestecke legte. Nur die Esslöffel fehlten, wir hatten abends Holundersuppe gegessen und die waren im Abwasch. Dieser Koffer kam in einen Rucksack und rechts und links ein Koffer. Ich trug mein Kinderstühlchen, den Ranzen und eine meiner vielen Puppen. So liefen wir so schnell wie möglich die Treppe hinunter in den Keller. Wir mussten uns beeilen, weil bereits Vollalarm ertönte. Mit uns kamen aus allen Wohnungen die Mitbewohner und verteilten sich im Keller in die einzelnen Gänge. Bei den ersten Einschlägen erlosch das Licht und durch den Luftdruck blieben alle Armbanduhren stehen. Die Bombengeschwader rauschten über uns hinweg, aber unser Haus wurde nicht getroffen. Ich weiß nicht mehr genau, ob es ein Entwarnungssignal gab, denn die meisten der Häuser, auf denen die Sirenen standen, brannten ja schon. Wir haben jedenfalls alle den Keller verlassen und sind wieder in unsere Wohnungen gegangen.

Hier waren alle Scheiben geborsten, die Schranktüren standen offen und alles war in ein helles rötliches Licht getaucht, so dass man hätte Zeitung lesen können. In der Nachbarwohnung war die Küchenwand eingestürzt.

Meine Mutter zog also den Mantel aus, nahm den Besen in die Hand und begann die Scherben zusammenzukehren, als es plötzlich wieder krachte, ohne Alarm. Wir ließen alles fallen und rannten in den Keller. Meine Mutter nahm noch das kleine Köfferchen in die Hand und führte am Arm die blinde Frau Weißbach von unserer Etage nach unten. Im Keller angekommen, haben wir uns hingelegt, und über uns hinweg pfiff der Feuersturm. Vor das einzige Fenster, das unser Luftschutzausstieg sein sollte, hatte der Kohlenhändler nach dem ersten Angriff sein Auto gefahren, um es zu schützen, und das brennende Benzin lief in den Keller. Genau über uns war das Rußloch für den Schornsteinfeger. Das sprang auf und der ganze schwarze Ruß ergoss sich über uns. Aus dem hinteren Kellergang kamen plötzlich der Bäcker und seine Leute und riefen: "Die Backstube brennt!"

Nach dem ersten Angriff hatte eine Familie ihre Kaninchen aus dem Garten in den Keller geholt. Wir hörten die Kaninchen jammern, als ihr Fell Feuer gefangen hatte. Die Kellertreppe war zum Glück noch frei, so dass wir alle versuchten, ins Freie zu kommen. Dabei hatte keiner beachtet, dass die behinderte Frau Wagner im Vorkeller vom Stuhl fiel. Wir sind alle über sie hinweg gestiegen. Jeder war sich selbst der Nächste. Die wenigen älteren Männer unseres Hauses hatten, noch bevor die Flammen aus den Parterre- Wohnungen schlugen, durch die Haustür das Weite gesucht und waren in den nahen Waldpark geflüchtet. Wir anderen, mit den vielen fremden Leuten aus der Umgebung, deren Häuser schon seit dem ersten Angriff brannten, irrten auf dem kleinen Hof hin und her, getrennt durch einen kleinen Zaun, der den Wäscheplatz abtrennte. Der anschließende Geräteschuppen stand bereits in Flammen. Ich hatte ein kleines Pappköfferchen mit Verbandsmaterial in der Hand. Das ging auf und verlor den Inhalt. Ich wollte mich bücken, aber meine Mutter, die mich fest an der Hand hielt, verbot es mir, weil es überall brannte. Meine Puppe und den Schulranzen hatten wir in den Keller gelegt, weil ich beides los sein wollte.

Da in der einen Ausfahrt das brennende Auto stand und wir nicht wussten, ob das Tor zur Bäckereinfahrt offen war, konnten wir nicht auf die Straße gelangen. Wir hatten weder Decken noch Wasser und aus den Parterre-Wohnungen schlugen die Flammen Kreise mit den Flammen des Nachbarhauses. In dieser Verzweiflung hat jemand gerufen: "Ins Waschhaus!" Ich habe meine Mutter zur Waschhaustreppe gezogen, aber sie wollte nicht, weil sie meinte: "Das Haus bricht über uns zusammen und begräbt uns bei lebendigem Leibe." Weil aber alle in das Waschhaus rannten, sind wir gefolgt, während es rund herum krachte. Auf den Einwand, dass das Haus über uns zusammenbricht, sagte ein Mann, das sei Gewölbe und würde standhalten. Ich weiß, dass die Erwachsenen jedes Mal zusammenzuckten, wenn eine Etage einstürzte. Ich saß auf dem kleinen Koffer und hatte den Kopf auf den Kinderwagen von Frau Krebs gelegt, die sich beklagte, dass ich ihren Hut zerdrücke. Meine Mutter wies sie zurecht, indem sie ihr sagte: "Wir wissen gar nicht, ob wir hier lebend rauskommen."

Als die Bombenanschläge aufhörten und es dämmerte, entschlossen sich zwei Männer, mit einer Zinkbadewanne über den Köpfen die Waschhaustreppe zu erklimmen. Aus der Parterrewohnung ragte ein glühender Deckenbalken, er lag auf dem Geländer der Waschhaustreppe. Nachdem die beiden Männer den Hof nach Blindgängern abgesucht hatten, stellten sie sich oben hin, und wir sind einzeln unter dem glühenden Balken durchgekrochen. Im Hof war der Schuppen niedergebrannt, nur die Kohlenhaufen glühten noch. Es war sehr warm. Wir haben uns auf einen umgestürzten Stamm gesetzt und geschaut, wer alles noch da war. Die Männer, die ihre Familien im Stich gelassen hatten, kamen zurück. Nur Herr Müller, Vater von vier Kindern fehlte.

Müllers hatten ihre Kinder nach dem ersten Angriff wieder schlafen gelegt und wurden vom zweiten Angriff völlig überrascht. Renate, die so alt war wie ich, hatte nur den Mantel über dem Nachthemd und nur einen Schuh an. Den anderen hatte sie verloren. Herr Müller war als Einziger nochmal durch das brennende Haus in seine Wohnung gegangen, um für die Kinder was zum Anziehen zu holen. Der Jüngste, Klaus, war erst ein Jahr alt. Über die Treppe hat er nicht mehr zurückgekonnt und ist vom Balkon gesprungen. Er lahmte und war deshalb auch nicht im Krieg. Ins Haus konnte er nicht mehr und so hat er sich in den Keller des gegenüberliegenden Hauses gerettet und ist dort verbrannt. Frau Müller mit ihren vier Kindern hatte man später eine möblierte Wohnung zugewiesen, deren Besitzer Nazis waren und geflohen sind. Wir haben sie dort mal besucht. Die Mutter ist schwermütig geworden und als Helga, die beim Angriff zehn war, Konfirmation haben sollte, hat deren Mutter gesagt, sie wollte die Wohnung vorrichten lassen und sie müssten alle in der Küche schlafen. In dieser Nacht 1949 hat sie den Gashahn aufgedreht und sich mit ihren vier Kindern vergiftet. Aus dem Haus hat man fünf Särge getragen.

Wir haben uns noch im Hof unseres zerstörten Hauses alle voneinander verabschiedet. Jeder hat überlegt, wo er so schnell wie möglich eine Unterkunft finden kann und außer Müllers haben wir niemanden aus unserem Haus wiedergesehen.

Ich bin als Jugendliche noch oft zu unserem Haus gegangen, solange die Ruine noch stand. Erst, als man ein zweistöckiges Wohnhaus mit den Nummern 17 a, b und c darauf gebaut hat, war es nicht mehr meine Heimat.

Gerade als wir den Hof verlassen hatten, brach hinter uns die Giebelwand zusammen. Meine Mutter hat noch mit Kreide für meinen Vater an die Hauswand geschrieben: "Sind bei Hedl, Tolkewitz, Lotte und Annelies."

Die Wittenberger Straße ist sehr lang, die Hausnummern gehen bis über die 100. Wir wohnten in der Nr. 17, also nahe am Zentrum, dort wo fast alle Häuser zerstört waren. Wir kamen an vielen Bombentrichtern und Leichen vorbei. Ab und zu standen ein paar Häuser, weil die Bomber nach dem Angriff weitergeflogen sind, bis sie wieder ausklinken konnten. Auf der Schandauer/Wehlner Straße kamen wir an der Bergießhübler Straße vorbei, wo meine Großeltern wohnten. Deren Haus war auch niedergebrannt und so sind wir gleich weitergelaufen. Linker Hand liegt der große Johannisfriedhof, rechter Hand brannte der Tolkewitzer Straßenbahnhof. Wir liefen in banger Erwartung, dass das Haus, wo Tante Hedl wohnte, noch steht. Eigentlich waren wir gar nicht verwandt. Tante Hedl war nur eine frühere Arbeitskollegin meiner Mutter, aber die Ehepaare waren seit Jahren eng befreundet und mein Vater Pate bei deren vierjähriger Tochter Renate. Ich kannte die Strecke gut, weil wir oft dort zu Besuch waren. Als wir am Wasserwerk Tolkewitz ankamen, blickten wir ängstlich die Salbachstraße entlang, und das Haus, indem Tante Hedl mit ihrer Familie wohnte, stand tatsächlich noch.

Meine Mutter hatte uns aus Mullbinden einen Mundschutz genäht, den wir dann abgenommen hatten, so dass wir zwar schwarz im Gesicht waren, aber einen weißen Mund hatten. Onkel Fritz stand am Gartentor und hat uns nicht erkannt. Erst als meine Mutter ihn ansprach, war ihm klar, wer wir waren.

Meine Mutter wusste, dass, wenn die Engländer nachts eine Stadt bombardiert hatten, meistens mittags die Amerikaner die zerstörten Städte erneut heimsuchten. Es war ihr daher wichtig, dass wir schnell ein Dach über den Kopf bekommen. Meine Tante hatte schnell uns das wenige Wasser aus der Ofenpfanne zum Waschen gegeben, denn obwohl das Wasserwerk gegenüberstand, gab es kein fließendes Wasser mehr. Plötzlich gingen die Sirenen und es kam der Mittagsangriff. Dabei haben die amerikanischen Bomber vorwiegend die Elbwiesen und den Großen Garten getroffen, wo sich viele Menschen hin gerettet hatten. Die großen Tiere im Zoo, wie Elefanten, Tiger und andere Raubtiere, hatte man beim ersten Angriff erschossen, weil der Zoo auch getroffen war. Aber die Kleinen, wie Affen usw. sind genauso ängstlich im Großen Garten herumgerannt, wie die Menschen.

Unsere Freiberger Verwandten, die den roten Himmel in der Nacht des 13. Februar gesehen hatten, waren natürlich in großer Sorge um uns. Es gab weder Post noch Telefonverbindung. Wo hätten sie auch anrufen sollen? Unser Haus, wo der Bäcker Telefon hatte, war zerstört. Also hat sich mein Onkel nach 14 Tagen per Rad auf den Weg nach Dresden gemacht, um uns zu suchen. Über Dresden-Plauen hat er sich durch die Innenstadt soweit wie möglich bis nach Striesen zu unserem Haus auf der Wittenberger Straße durchgekämpft. Dabei muss er Schreckliches gesehen haben. Als er an unserem Haus angelangt war, las er die Notiz: "Sind bei Hedl, Tolkewitz, Lotte und Annelies". Also hat er sich nach Tolkewitz durchgefragt, bis er am Wasserwerk ankam. Tolkewitz ist ein östlicher Stadtteil von Dresden. Also wo sollte er uns suchen? So unwahrscheinlich das klingt, aber es ist wahr. Er traf einen alten Mann mit Stock, den er nach seiner Schwägerin und Nichte fragte, und der sagte ihm: "Da kommen Sie mal mit, die sind bei uns." Die Wiedersehensfreude war riesig, als mein geliebter Onkel Franz aus Freiberg vor der Tür stand. Natürlich wollte ich gleich mit, denn ich war ja gern in Freiberg, manchmal wochenlang, als ich noch nicht zur Schule ging. Das war natürlich nicht möglich. In der Nacht, als er wieder in Freiberg angekommen war, hat er nur gesagt: "Sie leben!", dann hat er die ganze Nacht fantasiert. Der Gauleiter von Dresden, Martin Mutschmann, hatte Dresden trotz der starken Zerstörung zur Festung gegen den Einmarsch der Russen erklärt. Das war der Anlass zum Entschluss meiner Mutter, Dresden zu verlassen. Sie sagte: "Einmal haben wir es überlebt, nochmal nicht!"

Tante Hedl's Mann war Straßenbahnschaffner und konnte nicht weg, aber seine Frau und Tochter wollte auch er in Sicherheit wissen. Darum hat er uns Anfang April, früh 4 Uhr, zu Fuß zum Bahnhof nach Dresden-Plauen geschafft. Von dort aus sollte ein Zug nach Freital-Hainsberg gehen. Dann war die Eisenbahnbrücke gesprengt und von da aus wollten wir zu Fuß weiter bis Klingenberg-Colmnitz laufen. Wir saßen schon im Zug, aber er fuhr nicht los. Wir mussten also schon ab Dresden-Plauen laufen. Meine Mutter kannte die Strecke durch den Plauenschen Grund, weil sie früher mit meinem Vater per Rad nach Freiberg gefahren ist, denn die Bahn war zu teuer. Wir hatten den Sportwagen mit, denn Renate war erst 4 Jahre alt und wir waren seit 4 Uhr unterwegs. Nach mehreren Stunden, gegen Nachmittag, erreichten wir den Seerenteich, der damals noch eine Gaststätte hatte. Hier haben wir einige Stunden Rast gemacht. Auf Lebensmittelmarken bekamen wir eine Suppe. Wir Kinder sollten etwas schlafen, aber auf dem nach Zigarettenrauch und Dreck stinkenden Sofa war das nicht möglich. Also machten wir uns wieder auf den Weg nach Klingenberg-Colmnitz. Wir wussten, dass 22 Uhr von Freiberg ein Zug kommt und zurück nach Freiberg fährt. Der Bahnhof war voll mit Flüchtlingen und es war kalt. Endlich, nach stundenlangem Warten, kam tatsächlich der erwartete Zug. Alle Menschen strömten hinein und so kamen wir bald auf dem Freiberger Bahnhof, Gleis 2 an.

Meine Freiberger Verwandten gingen seit Tagen genau zu diesem Zug auf den Bahnhof, da sie nicht genau wussten, wann wir kommen und erwarteten uns. Ich bin als Erste über die Gleise gesprungen und war schon gut versorgt. Für meine Tanten war es selbstverständlich, auch Tante Hedl und Renate aufzunehmen, obwohl sie sich völlig fremd waren. Meine Tanten bewohnten mit ihren Männern je eine Zwei-Zimmer-Wohnung im selben Haus. Ich schlief in der Besucherritze der Ehebetten und meine Mutter auf dem Sofa.

Tante Hedl und Renate auf dem Sofa bei Tante Else. Noch vor dem Russeneinmarsch holte Onkel Fritz seine Frau und Tochter nach Dresden, weil dort alles ruhig war und er mit seinem Schwiegervater in der schlechten Zeit alleine nicht zurecht kam. Viele Leute, auch aus unserem Haus haben versucht, Freiberg in Richtung Nossen zu verlassen, weil dort als erstes die amerikanischen Soldaten einmarschieren sollten und keiner was Gutes von den Russen erwartete. Auch meine Verwandten haben diesen Gedanken erwogen, aber dann auf Abraten meiner Mutter davon Abstand genommen. Die ersten russischen Soldaten waren zunächst ja auch ganz friedlich.

Es war ein schöner Frühlingstag und wir saßen mit anderen Hausbewohnern im Hof auf der Bank. Ein junger Russe wollte mir meine einzige Puppe wegnehmen. Ich muss ihn so entsetzt angesehen haben, dass er davon abließ. Erst nachts begannen dann die Vergewaltigungen. Die Haustüren mussten offen bleiben und ab 22.00 Uhr war Ausgangssperre. Auch in unserem Haus hatte es eine Frau erwischt. Bei Tante Else im Erdgeschoss war auch ein Russe in der Wohnung. Mein Onkel hat aber seine Frau heldenhaft verteidigt und ihn mit einer Flasche Schnaps und seiner Uhr abgefunden.

Meine Freiberger Großeltern wohnten auf der Berthelsdorfer Straße am Humboldtplatz. Dort ist bei dem Mittagsangriff am 10. Oktober 1944 ein Blindgänger durchs Dach eingeschlagen und im Keller liegengeblieben ohne zu explodieren. Die Nachbarin ist durch den Luftdruck ums Leben gekommen und meine Großeltern waren ohne Wohnung. Sie kamen auf der Ziegelgasse, gleich hinter dem Tunnel unter und als der Schaden behoben war, konnten sie wieder in ihre Wohnung zurück. Dadurch bekamen wir die Möglichkeit, ein schmales Zimmer und eine kleine Dachkammer zu beziehen. Meine Mutter war so glücklich, als sie wieder ihre eigenen vier Wände hatte, auch wenn es äußerst primitiv war.

Der Artikel in der "Freien Presse" vom 13.02.2017